Ordinary Vices Book

Idee und Anlage sind bedenkenswert und produktiv. In der Tat ist die Furcht vor der Furcht (und die kann nur aus der Ahnung möglicher Grausamkeit entstehen) ein Grund für die Verbiegung des Charakters. Deshalb muss "Grausamkeit" unter Verdikt gestellt werden, um dem Menschen freie Luft zum Atmen zu geben. Das kann freilich nicht durch den Gnadenakt eines milden Despoten geschehen, sondern nur durch das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit, wie es nur ein Rechtsstaat mit Gewaltenteilung etc. hervorbringen und garantieren kann. Das System bürgerlicher Rechte erfordert also keine moralisch besonders integeren Persönlichkeiten, sondern trägt der Tatsache Rechnung, dass "wir" so nicht sind und auch nicht sein können. Dennoch weiß Judith Shklar um die Spielräume auch gesetzlich eingehegter Macht, weshalb sie den Charakter mit Blick auf Politiker dann doch nicht ganz und gar für unwichtig hält. Wichtig sei jedoch, nicht ein (notwendig heuchlerisches) Muster persönlicher Vollkommenheit an die Spitze zu wählen, sondern den Wahlmechanismus so zu gestalten, dass er eine quasi negative Selektion garantiert. Den Rest müsse die öffentliche Kontrolle leisten, wie sie aus dem Widerstreit der eifersüchtig einander überwachenden Interessen hervor gehe. (Hier lässt der Marktliberalismus mit seiner "unsichtbaren Hand" grüßen!) Ein durch und durch liberales Konzept also, das überzeugend gegen überkommene Tugendmoral argumentiert, die "Glück" in der Hierarchie der Werte an die erste Stelle rücken will. "Glück" verträgt sich, insofern es ein zutiefst persönliches Gefühl ist, sehr wohl mit Unterordnung unter öffentliche oder persönliche Gewalten. (Eben deswegen kommen so viel mehr Leute mit der Idee eines im Wortsinne "paradiesischen" Lebens, in dem ein Herr(Gott) für sie denkt und handelt, klar, als Leute sich für die "Freiheit" erwärmen können, die eben deshalb immer gotteslästerlich ist und etwas Teuflisches hat.) - Soweit, so einverstanden. Das Problem ist, dass dieses am Beispiel der amerikanischen Verfassungsgeschichte abgehandelte Ideal gerade in den USA nicht funktioniert und auch nie funktioniert hat. Wenn Shklar anmerkt, dass der (in der Theorie) fantastische Zusatz zur amerikanischen Verfassung, dass Strafen verboten seien, die eine besondere Grausamkeit darstellen, im Prinzip nie zur Anwendung kommen musste, dann übersieht sie die Praxis der Hinrichtungen auf dem elektrischen Stuhl, die z.T. jahrelangen Aufenthalte in Todeszellen usw. Sie nimmt Bezug auf den Faschismus, aber weder der Vietnam- noch der Korea- Krieg kommen vor und wenn es um "Verrat", "Heuchelei" usw. geht, findet in ihrem Buch keine amerikanische Realpolitik statt. Zu diesem Manko gesellt sich ein darstellerisches Problem: Shklar wollte ausdrücklich unter Zuhilfenahme literarischer Vorbilder "Geschichten" über die behandelten Sachverhalte erzählen und nicht systematisch oder theoretisch an die sie interessierenden Fragen heran gehen. Auf diese Weise werden eine Menge Fragen angeschnitten, die zum Weiterdenken geradezu auffordern, deren Aktualisierung (aus Rücksicht auf ihre akademische Stellung?) jedoch nie vorgenommen wird. Mit der Zeit werden Shakespeare, Nietzsche und Thackerey (zumindest) für denjenigen, der sie auch schon mal gelesen hat, zunehmend uninteressant und die betreffenden Passagen langatmig. Man möchte dann aus der Geschichte heraussteigen ins Hier und Jetzt und sich fragen, was zu tun wäre, um das skizzierte Ideal in Realität zu setzen, doch das verweigert die Autorin so konsequent, dass man das Gefühl bekommt, dass sie solche Fragen entweder nicht beantworten will, oder sie einfach nicht beantworten kann. So gesehen bin ich auf die euphoprische Besprechung des Buches, in der der Text als DIE Wiederentdeckung des Jahres im Bereich politikwissenschaftlicher Literatur erscheint, einfach nur reingefallen. Allerdings geht mir das in jüngster Zeit öfter so. Das hat wohl damit zu tun, dass sich hier eine Generation literaturkritisch engagierter Redakteure etc. zu Wort meldet, der es - ich sage das nicht unbedingt abwertend - schlicht und ergreifend an Leseerfahrung fehlt. Ich weiß, die Jugend kann alles besser und die Digitalisierungstendenzen befördern den schon länger sichtbaren Jugendkult; in Philosophie und Literatur, vielleicht auch im Bereich der Politikwissenschaften und Geschichte zählen allerdings die Jahre. Und mit der Zeit wird man vorsichtiger, was die großen Überraschungen und das scheinbar Noch- Nie- Dagewesene anbelangt. Manchmal hat der/ die Redakteur/in einfach noch nicht genug und womöglich noch nichts Besseres gelesen. Kurz: Das Thema ist anregend und das Buch sei denjenigen empfohlen, die mal sehen wollen, wie man mit Literatur umgehen kann, wenn man sie auf ein bestimmtes Thema hin liest und "ausschlachtet". Wer allerdings mit den so angebotenen Anregungen selbst (noch) nichts anfangen kann, der sollte die Finger von einem Text lassen, der in sich einfach nicht mit seinem Gegenstand fertig geworden ist. Trotzdem gut, dass ich nun Frau Shklar kenne. Drei Sterne sind immerhin ok.